Kampfsport und Kalligraphie – zwei Wege, sich selbst kennen zu lernen
Der Weg in den eigenen Geist
Sich selbst zu immer besseren Leistungen antreiben, die eigenen Grenzen kennen, einschätzen können und doch immer wieder darüber hinaus zu gehen – das kann nicht jeder. Dazu gehört ein eiserner Wille, aber auch der Mut, Grenzen zu akzeptieren. Denn nicht immer kann man über sich hinaus wachsen, nicht jede Grenze kann und sollte man sprengen, und vor allem muss man akzeptieren, dass nach jedem Erfolg eine Ruhepause erforderlich ist. Das gilt für den Körper ebenso wie für den Geist.
Am Anfang der Reise zu ungeahnten Leistungen steht die Selbstkenntnis. Sich selbst kennen, das betrifft so banale Dinge wie Berührungsängste, aber auch große Sachen wie persönliche Probleme, Launen und Züge der Persönlichkeit. Nur wer sich selbst kennt und einschätzen kann, kann sich auch beherrschen, und wer sich beherrscht, hat die Möglichkeit, über sich hinauszuwachsen. Es braucht Disziplin und Überwindung, sich selbst so genau zu beobachten, und es braucht Mut, sich anderen Menschen mitzuteilen.
Der Mensch im Mittelpunkt
Was hat das mit Kampfsport zu tun? Eine Menge. Denn die asiatischen Kampfkünste lassen sich nicht auf rein körperliche Geschicklichkeit reduzieren, sie gehen mit einer Philosophie einher, die im Training auch bestmöglich vermittelt wird oder zumindest vermittelt werden sollte. Im Mittelpunkt dieser Philosophie steht der Mensch. Der Mensch, der sich selbst und anderen nur helfen kann, wenn er die eigenen Grenzen kennt und akzeptiert, seine Integrität bewahrt und sich selbst und andere respektiert.
Ein Beispiel: In einer akuten Angriffssituation auf der Straße muss ein trainierter Kampfsportler nicht nur schnell erkennen, dass ein Mensch in Bedrängnis geraten ist, sondern er muss auch das genaue Maß der Bedrängnis beurteilen, seine eigenen Möglichkeiten zu helfen abwägen und angemessen reagieren. Eigene Berührungsängste müssen überwunden werden, die Sicherheit aller Beteiligten sowie die von unbeteiligten Personen in der Nähe muss in Betracht gezogen werden. Dem Bedrängten muss geholfen werden, und gleichzeitig muss das Maß an angerichtetem Schaden gering gehalten werden. Für all das stehen nur wenige Sekunden zur Verfügung, zur Zeitnot kommt ein hoher Stressfaktor. Persönliche Zustände wie der aktuelle Gesundheitszustand (man denke an gezerrte Schultern vom letzten Training und dergleichen), der unterdrückte Ärger auf den Chef und die allgemeine Gereiztheit müssen ebenso bedacht und kompensiert werden wie die gesetzlichen Grenzen der Verteidigung eingehalten werden müssen. Der Gegner muss ebenso respektiert werden wie das Opfer, dem es zu helfen gilt. Dabei wäre es falsch, diesem Menschen ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit und Hilfsbedürftigkeit zu geben – das würde den vermutlich bereits erlittenen körperlichen Verletzungen seelische hinzufügen.
Der Mensch mit seinen Bedürfnissen, mit seinen ganz eigenen Charakterzügen steht im Mittelpunkt. Er/sie wird einfach erst einmal akzeptiert, so wie er/sie eben ist. Da sind keine Gedanken an Verbesserung oder Veränderung, sondern Respekt gegenüber dem Menschen. Das ist wichtig, denn nur so kann der Mensch richtig eingeschätzt werden, was für die Einschätzung von Verteidigungssituationen wie auch Wettkampfsituationen wichtig ist. Das verlangt Konzentration, Menschenkenntnis, Disziplin. Und mit dem Respekt geht Wertschätzung einher: Es handelt sich immer um einen Menschen, egal, wie die Situation gerade ist. Konkreten Ausdruck findet diese Geisteshaltung in dem Gruß, denn sich Kampfsportler vor und nach dem Training geben, den sie vor und nach dem Wettkampf zelebrieren. Und dieser Respekt, diese Wertschätzung, wird auch dem eigenen Körper zuteil.
Gezielte Bewegungen von großer Genauigkeit – langsam oder schnell?
Kampfsport betrifft die Grobmotorik ebenso wie die Feinmotorik: Große Bewegungsabläufe müssen technisch perfekt beherrscht werden. Kleine Details sind oft ausschlaggebend, die gehören zur Feinmotorik. Welche Bewegungen werden wie ausgeführt? Auf dem Weg zur perfekten Technik lernt der Kampfsportschüler/die Kampfsportschülerin den eigenen Körper kennen. Dehnbarkeit, Beherrschung einzelner Muskeln und Muskelgruppen spielen ebenso eine Rolle wie die genaue Lokalisierung von Schmerzen, die beim Training auftreten können und auf Verletzungen hindeuten. Alle Bewegungen werden mit hoher Geschwindigkeit ausgeführt und müssen dennoch exakt sein, exakt in der Bewegungsführung wie auch in der Zielrichtung.
Was hat Kampfsport mit Kalligraphie zu tun? Es geht hier nicht um die westliche Disziplin der schönen Handschrift, der Zierschriften und filigranen Frakturen, sondern um Kalligraphie im asiatischen Sinn. Diese Kalligraphie hat das Ziel, ein Schriftzeichen so aussehen zu lassen, dass sowohl die Bedeutung des damit ausgedrückten Wortes als auch die Geisteshaltung dessen, der schreibt, zum Ausdruck kommt. Innerhalb der engen Grenzen, die die korrekte Wiedergabe des Schriftzeichens zeichnen, ist das eine schwierige Aufgabe, die jahrelange Übung erfordert, Konzentration und Körperbeherrschung. In der Regel wird sehr langsam geschrieben, unter höchster Konzentration. Die Bewegungsführung muss exakt sein, und dabei spielen Richtungen eine ebenso große Rolle wie Druck und verwendete Tintenmenge.
Künstlerischer Ausdruck
Asiatische Kalligraphie erfordert Kraft und Ausdauer, denn anders als beim normalen Schreiben werden die Unterarme nicht aufgelegt. Eine gerade Haltung ist wichtig, das Gewicht der Arme und Hände liegt auf den Schultern, und es muss vom Rücken ausbalanciert werden. Gleichzeitig müssen Handgelenke und Finger locker bleiben, den Pinsel zwar halten und führen, aber nicht verkrampfen. Allein diese Haltung erfordert schon Übung und Konzentration. Im Gegensatz zum Kampfsport erfordert die Kalligraphie relativ langsame Bewegungen. Je nach gewünschtem Ausdruck sind sie mehr oder weniger dynamisch, mehr oder weniger elegant, mehr oder weniger geschwungen. Sie sind jedoch immer vollkommen gelenkt und konzentriert ausgeführt, im vollen Bewusstsein des Resultats. Wie in einer Kampfsituation müssen Pinsel, Tusche, Papier abgeschätzt und kalkuliert werden. Der persönliche Gemütszustand (Müdigkeit, Stress, Ungeduld beispielsweise) muss ebenso in den Hintergrund geraten wie der körperliche Zustand, denn zitternde Hände (aufgrund von hoher Anstrengung), zu starker oder leichter Druck (aufgrund von Muskelkater beispielsweise) und dergleichen ruinieren die Arbeit. Der/die Schreibende versetzt sich in das Schriftzeichen hinein, studiert historische Varianten, arbeitet konzentriert an einem Zeichen, einem Satz oder einem ganzen Gedicht. Die Kunst besteht darin, dass der Sinn des Geschriebenen im Erscheinungsbild der Schrift ebenso Ausdruck findet wie im Inhalt des Geschriebenen. Oder eine Interpretation erfährt. Die Schrift wird zum Bild, ohne das bildende Elemente benutzt werden.